taz vom 24.121994                .

Von Joachim Frisch
 
Völlers Leere und das kultivierte Ungeschick

 
 
 

Annäherung an eine Ästhetik des Phänomens Fußball in elf Prinzipien / Fußball als Abstraktion
von Politik, Intellekt und Gesellschaft
Von Joachim Frisch
 

Die Faszination des Fußballspiels ist fern aller politischen, emotionalen und
kulturellen Projektionen zu suchen, fern von Analogien und Interpretationen: im
Bewegungsablauf und in der Raumaufteilung auf dem Platz, in der Spannung
zwischen einfachstem Spiel und seiner Begrenzung durch Regeln. Sein Reiz beruht
auf der Abstraktion von den gesellschaftlichen Verhältnissen, vom Ernst des
Lebens, nicht in ihren fadenscheinigen Entsprechungen. Doch weist der Fußball
damit nicht den Weg zu einer Utopie jenseits aller Vergesellschaftung. Das wäre
der Weg zurück in die Barbarei. Er spendet allenfalls Trost angesichts der
gesellschaftlichen Zumutungen. Darin ist er der Kunst und der Literatur nahe,
der Politik aber fern. Fußball hat viel mit Intuition und mit Instinkt zu tun,
nichts mit Intelligenz und Gesinnung. Er lebt von der Spannung zwischen
Zivilisation und ungezügelter Natur, von Regel und Anarchie. Die Reflexion
dieses Zusammenhangs im Spiel aber ist dessen Zerstörung.

Wenn nun Fußball Abstraktion von Intellekt, von Politik und Gesellschaft ist,
wenn Fußball Kunst ist, so ist seinem Geheimnis nur mit einer Ästhetik
näherzukommen. Diese ist bisher nicht geschrieben worden. Ror Wolf hat sich
poetisch dem rohen Sein des Fußballs gewidmet und seine Mythen vorgeführt. Er
ist damit dem Fußball gerechter geworden als alle angestrengten
gesellschaftlichen Analysen. An dieser Poesie des Fußballs muß sich eine
Ästhetik des Fußballs orientieren. Ihre Aufgabe muß es sein, den Fußball von
allen Instrumentalisierungen befreit zu begreifen, auch von denen der Guten und
Gerechten. Sie muß eine Kritik der Entfremdung des Fußballs sein, seiner
Entfremdung durch Kommerz, durch elektronische Medien, durch alle Ansinnen von
Gesinnungen.

Vor einer Ästhetik muß jedoch eine Phänomenologie des Fußballs stehen, die
hinter dem Schleier aus Mythen das einfache Prinzip freilegt, das den Fußball
zum Faszinosum (P. Jenninger) über alle kulturellen, religiösen und politischen
Grenzen hinweg werden läßt. Die Phänomenologie des Fußballs wird zwar das
Geheimnis der Faszination nie ganz lüften können, doch sie kann seine Spur
aufnehmen. Diese Annäherung zielt nicht auf Entzauberung, sondern auf
Verdoppelung der Lust am Fußball durch die Lust an der Erkenntnis über ihn. Ein
Fußballspiel ist ein Fest der Differenz ewig wiederkehrender Muster. Jedem
Steilpaß geht ein Steilpaß voraus, doch kein Steilpaß ist jemals mit einem
früheren Steilpaß identisch.

Seine unvergleichliche Mischung aus Kraft, Geschick und Ungeschick verdankt der
Fußball der elementarsten, gleichsam banalen und genialen Regel des Fußballs,
dem Verbot des Handspiels und aller Hilfsmittel. Es gibt keine Sicherheit des
Ballbesitzes, nicht mal für den Bruchteil einer Sekunde. Der flüchtige
Augenblick der Ballberührung mit dem Fuß oder Kopf dauert nicht länger als ein
Wimpernschlag. Weil die Hand, das Organ motorischen Geschicks, aus dem Spiel
bleibt, wird die ganze Geschicklichkeit des Spiels dem ungeschickten Fuß
aufgebürdet. Stets lauert das Versagen an der Grenze der eigenen Beweglichkeit.
Brillant ist nur der Spieler, der das Risiko des Fehlers in Kauf nimmt, der die
Grenzen der Beherrschbarkeit des Balles ertastet und für sich verschiebt.
Champions-League-Spiele sind langweiliger als so manches C-Klassen-Spiel, wenn
diese Grenze der Beherrschbarkeit nicht angetastet wird. Die Balance von Kraft,
Schnelligkeit, Eleganz und Geschick entfaltet ihre Faszination erst mit dem
Risiko des Mißlingens.

Diesen einfachen Grundsatz des Fußballspiels wollen wir das Prinzip
des kultivierten Ungeschicks nennen. Die permanente Angst vor dem Ballverlust
durch die Kombination der Flüchtigkeit des Ballkontaktes (zweites
Prinzip) mit der permanenten Bedrohung durch den Gegner (drittes
Prinzip) gibt dem Fußball seine Rasanz. Daß diese nicht zu Hektik ausartet, ist
dem Raum zu verdanken. Gut 7.000 Quadratmeter stehen den 22 Spielern zur
Verfügung, um Wege zum Tor des Gegners zu finden.

Daraus ergibt sich eine Unmenge möglicher Kombinationen in jeder Situation und
somit das vierte Prinzip: die Unendlichkeit der
Handlungsalternativen. Raum, Gegner und der Mangel an Kondition zwingen zur
Taktik, zur Suche nach der idealen Raumaufteilung, nach dem rationellsten
Spiel.
Doch die rationale Kalkulation in der durch den drohenden Gegner eng begrenzten
Zeit überfordert den menschlichen Intellekt maßlos. Gerade über den Intellekt
gesteuertes Spiel ist schematisch, taktisch und langweilig, und es ist allein
auf Athletik angewiesen. Erst was über diese intellektuell faßbare Dimension
hinausgeht, fasziniert.

Athletik ist eine notwendige Basis für Spitzenfußball, längst keine
hinreichende
Qualität. Pure Athleten sind auf dem Fußballplatz oft Dilettanten, genauso wie
Intellektuelle - letztere nicht deshalb, weil Fußball zu primitiv wäre, sondern
deshalb, weil Fußball für den menschlichen Intellekt zu komplex, zu schnell
ist.
Die Eigenschaften des begnadeten Fußballspielers sind Instinkt und Intuition.
Geniale Fußballer waren und sind immer Intuitionsfußballer. Und dies ist der
Grund, weshalb Fußball in die Sphäre der Kunst als Annäherung an das Unsagbare
gehört. Es ist die metaphysische Dimension des Fußballs. Intuition ist das
Gegenteil des Geistes, aber gleichzeitig dessen Ursprung. Das sagten Nietzsche
und Adorno. Im Fußballspiel entsteht Geist aus Instinkt, ein Geist jedoch, der
anderer Natur ist als der Intellekt. Der Geist des Fußballs hat seine eigene
Schönheit, seine eigene Kraft und seine eigene Würde. Zu verstehen ist er
deshalb nur durch eine eigene Ästhetik. Er ist Geist im Rohzustand, noch nicht
durch instrumentelle Vernunft zugerichtet. Daher rührt seine Unvereinbarkeit
mit
der Politik, denn diese ist ein triviales Produkt des Geistes. So lautet denn
das fünfte Prinzip: die Dominanz der Intuition.

Angesichts dieser künstlerischen Dignität des Fußballs wirken alle Versuche
einer pseudowissenschaftlichen Quantifizierung fußballerischen Könnens
kreuzdumm. Die Anzahl der Ballkontakte, der gewonnenen Zweikämpfe, der
heruntergespulten Kilometer oder der Schüsse aufs Tor sagen nichts über die
Qualität eines Spielers, schon gar nichts über die Qualität eines Spiels aus.
Ein Spieler wie Romario kann ein Spiel durch einen einzigen gewonnenen
Zweikampf
oder einen einzigen Schuß aufs Tor entscheiden. Maradona konnte dies durch
einen
einzigen Paß.

Diese Spannung von höchster Kunst und kalter Berechenbarkeit verweist auf das
sechste Prinzip: die Dialektik von Quantität und Qualität. Der
quantitative Charakter der Entscheidung erlaubt optimale Klarheit (im Gegensatz
zu Sportarten mit erklärt künstlerischem Anspruch wie dem Eiskunstlauf). Tor
oder nicht Tor, dazwischen ist nichts, kein Drittes, kein Ausgeschlossenes,
kein
Nicht-Identisches. Welch krasser Gegensatz zur Qualität des Spiels, die
logisch,
statistisch, quantitaiv nicht annähernd zu erfassen ist. Sie ist geradezu die
Verkörperung des Nicht-Identischen. Diese enorme Spannung zwischen der
gnadenlosen Quantität der Entscheidung und dem zutiefst qualitativen Charakter
des Spiels verleiht dem Fußball eine unbeschreibliche Dramatik.

Welcher Anhänger des Fußballs ist nicht schon an der Ungerechtigkeit eines
schnöden Ergebnisses verzweifelt, das dem künstlerischen Wert der gezeigten
Leistungen Hohn sprach? Möglich wird diese Dramatik nicht etwa durch die
Raffinesse eines filigranen Regelwerks, sondern durch das krasse Gegenteil:
die Einfachheit der Regeln und des Spiels (siebtes Prinzip).
Amerikanische Journalisten überboten sich bei der Weltmeisterschaft gegenseitig
darin, Hohn und Spott über die Primitivität des Fußballs auszugießen. Sie
wunderten sich darüber, daß man mit über zwölf Jahren noch derart einfache und
kindische Spiele betreiben könne. Nun sind die USA das einzige bedeutende Land
der Welt, in dem Fußball völlig bedeutungslos ist. Sie sind auch das Land, in
dem das Niveau der Massenkultur der Phantasie Zwölfjähriger entspricht. Man
betrachte nur Hollywood nach Cary Grant. Auf diesem Niveau ist die dialektische
Dimension zwischen einfachem Spiel und Regel noch nicht zu begreifen. Wir
wissen, daß der Spieler sie nicht begreifen muß, doch dem über Fußball
Urteilendem sollte klar sein, daß gerade die Einfachheit der Regeln
Voraussetzung für die kreative Entfaltung des Spiels ist.

Indem man sich auf den einfachst möglichen Nenner einigt - der Ball muß ohne
Benutzung der Hände ins Tor, egal wie -, gewährt man dem Spieler und der
Mannschaft ein größtmögliches Maß an kreativer Entfaltung. Die Regel ist in
diesem Sinn weniger konstitutiv als defensiv, ja negativ: Sie unterbindet, was
den Fußball komplizieren und damit seine Entfaltung hemmen könnte. Sie ist das
Gegenteil der konstitutiven Regel, beispielsweise im Baseball. Dort
determiniert
die Regel den Charakter des Spiels, im Fußball ermöglicht sie seine kreative
Entfaltung durch das Prinzip Nummer acht der Dialektik von Regel und
Kreativität.

Getreten werden soll der Ball, und nur der Ball. Die Bewegungsfreiheit muß
erhalten bleiben, ohne daß die Bewegungsfreiheit des Gegners über ein das
gemeinsame Interesse am Spiel betreffendes Maß hinaus beeinträchtigt wird. Das
einfache Regelwerk stellt die optimale Form, den optimalen Rahmen zur
Verfügung, der die Möglichkeit zur optimalen Entfaltung der Fähigkeiten von Spieler
und Mannschaft gewährleistet. Dieser Minimalismus der Regulierung entspricht
dem Ideal eines nicht autoritären, formalen und modernen Rechtsprinzips, eine
libertäre Interpretation des Kantschen Kategorischen Imperativs. Der
Minimalismus der Regeln gibt dem Fußball das potentiell Anarchische, das linke
Schwärmer zu Analogieschlüssen verführt. Tatsächlich ist der Fußball ja
subversiv, nur nicht in irgendeinem politischen Sinn, sondern in einem
fundamentaleren, jenseits von Intellekt und Politik. Er ist subversiv gegen in
allen Kulturen und Ideologien verbreitete Alltagsmythen, weil er sich immer
wieder gängigen Mustern widersetzt.

Die Stars des Fußballs sind nicht die idealen, schnellen Supermänner, schon gar
nicht die intelligenten Helden der Revolution, sondern es sind nicht selten
komische Vögel, Typen wie "Ente" Lippens, Gerd Müller oder Garrincha. Über
Garrincha schreibt das "Fußball- Lexikon": "Rechtsaußen; Dribbelphänomen; besaß
,ideale' Fußballerbeine: wies ein linkes X-Bein, sechs Zentimeter kürzer als
das rechte O-Bein auf (daher ,Garrincha', ein brasilianischer Paradiesvogel mit
schaukelndem Gang)." Ausgerechnet Garrinchas Beine als die "idealen
Fußballerbeine", das ist die pure Subversion des Fußballs (neuntes
Prinzip) gegen das Ideal des perfekten Körpers.

Seit den Zeiten Günter Netzers besagt ein ungeschriebenes Gesetz, daß das
Trikot mit der Nummer Zehn dem Spielmacher vorbehalten sei. Hier bleibt
die Nummer  Zehn dem ökonomischen Prinzip vorbehalten, das den Fußball
zum attraktivsten aller Spiele macht: der Knappheit des Gutes Tor.

Die Möglichkeit, daß ein Ereignis ausbleiben kann, macht sein Eintreten erst
zur Attraktion. Gegen das Tor im Fußball ist ein Korb im Basketball oder ein Tor im
Handball schnöde Selbstverständlichkeit. Freilich ist ein Fußballspiel mit
vielen Toren meistens eine erfreuliche Angelegenheit, aber nur deshalb, weil
dies nicht die Regel ist, sondern ihre Überschreitung. Denn gerade die
Seltenheit des Eintritts des entscheidenden Ereignisses, des Tores, läßt dies
zum Sensationserlebnis werden, ja zum Fetisch.

In manchen Spielen spürt man eine Phase überhöhter Erregung. Dann sagen die
Reporter, ein Tor läge in der Luft. Fällt es tatsächlich, löst sich die nahezu
greifbare Spannung in orgasmischen Dimensionen auf, beim Torschützen, bei
Mitspielern, bei den Fans. Für Sekunden sind Raum und Zeit verschmolzen, ist
die Schwere des Daseins in grenzenloser Leichtigkeit aufgehoben, in der totalen
Ekstase. Rudi Völler beschreibt das Gefühl nach dem erfolgreichen Torschuß als
völlige Leere im Kopf. Es ist die Entfesselung des Ichs von den Fesseln des
Daseins in der Welt, von der trägen Körperlichkeit. Völlers Leere ist die
gleiche, als die der Mönch Adson sich angesichts seines einzigen und deshalb
einzigartigen Geschlechtsverkehrs noch am Ende seines langen Lebens erinnert:
"Es ist, als ob man verginge, als ob man schwerelos würde und nichts mehr
spürte vom niederdrückenden Erdengewicht des Körpers..." (Umberto Eco:
"Der Name der Rose")

Völlers Leere ist das Nirvana, der Zustand des Einsseins mit dem Kosmos, nach
dem Philosophen, Asketen, Gurus und Yogis seit Jahrhunderten suchen. Ist nicht
manches entscheidende Tor eine Spur befreiender als ein gewöhnlicher
Geschlechtsakt? Ich behaupte, daß dem Fußball huldigende Männer öfter beim
Orgasmus an Fußball denken als im Augenblick eines Tores ihrer Mannschaft an
einen Orgasmus. Wer's nicht glaubt, hat vom Fußball nichts begriffen, oder er
ist ein Mönch.

Das elfte Prinzip aber lautet: Fußball ist Trost.