Kick it (aus dem Spiegel online Nr. 4 vom 16.10.2000)
 
Der Meister
oder der Versuch sich unsichtbar zu machen

 

von Katrin Weber-Klüver

                   Jiri Nemec ist anders als alle. Keiner ist wie er, und wenn man gar nichts über ihn
                   sagte, gefiele ihm das mit ziemlicher Sicherheit am allerbesten. Aber wissen kann
                   man das nicht.

                   Jedes Jahr aufs Neue will Jiri Nemec für immer zurück. Aber dann bleibt er doch jedes Jahr
                   wieder in Gelsenkirchen, nun schon die achte Saison. Für Schalke verrichtet er unermüdlich
                   seine Arbeit im Mittelfeld, auch wenn es oft so aussieht, als gehe das alles weit über seine
                   Kräfte. Etwa, wenn es ihn beim einfachen Passspiel auf den Rasen haut. Oder wenn er sich
                   nach einem Foul nur sehr mühsam und sehr müde wieder aufrappelt.

                   Und wenn er mit seinen hängenden Schultern über den Platz trottet, könnte man meinen, er
                   grübele seit Ewigkeiten, komme aber einfach nicht darauf, wieso er Fußballspieler geworden
                   ist. Was ihn bloß in diese lärmige Welt verschlagen hat, in der erwachsene Männer Bälle in
                   ein Netz dreschen und dieses kindische Tun mit wildem Schreien und wüsten Gesten
                   bejubeln, um nicht "obszön" zu sagen.

                   Jiri Nemec täte so etwas nie und nimmer. Er vermeidet die Gefahr konsequent und schießt
                   nur alle zwei Jahre mal ein Tor. Das macht aber gar nichts.

                   Wenn seine Schwermut der Versuch ist, sich unsichtbar zu machen und der
                   Aufmerksamkeit des Publikums zu entgehen, dann ist er grandios gescheitert. Der "Meister"
                   wird Nemec bei Schalke genannt. Und auch jenseits von Schalke vielerorts sehr geachtet.
                   Es ist eine stille Fangemeinde. Sie weiß warum.

                   Vermutlich wäre ihm die Ehrerbietung etwas unangenehm. Aber wer weiß das schon? Man
                   weiß ohnehin wenig von ihm. Zum Beispiel dies: Seine liebste Freizeitbeschäftigung ist es,
                   aus Streichhölzern Schiffsmodelle zu bauen.

                   Man kann es sich sofort vorstellen: Wie er unter einer funzeligen Leuchte hockend, aber in
                   einer selig machenden Ruhe in wochenlanger Arbeit Tausende von Streichhölzern
                   aneinander klebt. Man kann es sich wunderbar vorstellen - aber es ist komplett erfunden.
                   Irgendjemand hat sich das Schiffchenbasteln einfach ausgedacht. Und Jiri Nemec hat es nie
                   bestritten.

                   Denn Jiri Nemec, der ziemlich gut Deutsch spricht (wie Eingeweihte wissen), spricht nie und
                   über nichts in der Öffentlichkeit. Keine Interviews, keine Fernsehsendungen, gar nichts. Jiri
                   Nemec spielt einfach Fußball. Und schweigt. Und vielleicht ist er gerade deshalb ein so
                   großartiger Held, weil er die Phantasie des Publikums nicht mit der Dummheit der Worte
                   beleidigt. Man kann sich gar nicht tief genug vor ihm verbeugen.

                   Aber es soll hier kein Fußballspieler in Versuchung geführt werden, ihm nachzueifern: So
                   felsenfest abgrundtief zu schweigen ist etwas, was nie einer können wird wie er, Nemec, der
                   Meister.