AUS DEM SPIEGEL 22/2001
 
 

Polemik: Erlösung nicht in Sicht

Warum nur müssen die Bayern alles gewinnen? Von Jürgen Roth







In Mailand, am vergangenen Mittwoch, erklommen sie den Gipfel des Glücks. Fraglos waren sie überlegen, die Bayern. Aber musste der Ball, der beim Elfmeterschießen von Oliver Kahns rechter Hand an die Unterkante der Latte gelenkt wurde, vor dem Kreidestrich auftropfen ­ und nicht dahinter?

Nicht ein einziger Spielzug aus dem Champions-League-Finale wird in unsere Erinnerung einsickern. Nur das Ergebnis. Und dann, unvermeidlich, der Auflauf am Marienplatz. Genug, genug!, schreit es überall, wir ertragen sie nicht länger!

Die Proteste richten sich nicht gegen schlechte Spiele oder unfaire Darbietungen der Mannschaft, sie richten sich gegen die pure Existenz des Münchner Schmuckvereins. Darin liegt etwas Neuartiges. Eine Krawallfundamentaloppositionsbewegung ist entstanden. Ich habe erlebt, wie in den Stunden nach dem duseligen 1:1 beim Hamburger SV intelligente, aufgeklärte, sonst zurückhaltende, ja feinfühlige Menschen zu Verbalrandalierern und Hooligans wurden und das "Bayernpack", "diese Ratten" und "Schmeißfliegen", am liebsten augenblicklich dem Fegefeuer überantwortet hätten.

Es war gespenstisch, ein hilfloser Appell an den Gott der Gerechtigkeit, eine vergebliche Empörung zu Gunsten des redlichen,
eleganter, emotionaler auftretenden FC Schalke, des "Meisters der Herzen". Das HSV-Publikum pfiff sich bei der Siegerehrung die Seele aus dem Leib, als gelte es, den Beelzebub zu exorzieren. Dafür muss es Gründe geben.

1996 noch, anlässlich einer Uefa-Pokal-Partie in Barcelona, schlug sich, abermals vor meinen Augen, eine komplette
Eintracht-Frankfurt-Kneipe auf die Seite Scholls, Kahns und Babbels, weil sie der geplagten deutschen Fußballseele Linderung, das heißt das Gefühl von Überlegenheit verschafften.

2001 ist das undenkbar. Einst sagte man dem unterdessen nicht mehr satisfaktionsfähigen Präsidenten, WM-Kaiser, Zornredner, Dampfplauderer und Handyvertreter Beckenbauer bewundernd nach, er, die "Lichtgestalt", könne, gleich König Midas, Dreck in Gold verwandeln. Dieser Tage traf Leverkusens Torwart Adam Matysek resigniert den herrschenden Ton: "Dieselbe Scheiße wie im letzten Jahr."

"Wer an der Klasse dieser Mannschaft zweifelt, hat keine Ahnung vom Fußball", wies Manager Uli Hoeneß vor kurzem die Kritiker angesichts der Niederwerfung Real Madrids zurecht, um genüsslich die nächste Watschen zu verteilen: "Wir sind besser als Real, besser als Manchester."

Dem Resultat nach ja, und nur das zählt. Dass eine effiziente, taktisch versierte Darbietung gelegentlich, so heuer in Manchester,
ihre eigenwillige Schönheit entfaltet, kann man einräumen. Der Philosoph Martin Seel lobte in der Zeitschrift "Freitag" den
Bayern-Stil schon 1994: "Was da als Minimalismus beschimpft wird, ist nichts anderes als ein entwickelter Sinn für die taktischen Seiten des Spiels." Dass aber die Clubperformance ausschließlich dem Profitziel, dem Ergebnis, den nackten Zahlen dient, löst Neid und Leid aus. Und die Grenze der Leidensfähigkeit ist erreicht.

Zu sehr provoziert die Dreistigkeit, mit der das leitende Personal sich sonnt und spreizt im Glanz eigener Genialität, einer
kaufmännischen Brillanz der (Aus-)Nutzungsoptimierer, die offenbar auf das Spiel abfärbt. Hoeneß feierte das "gigantische Jahr" der Saison 2000/2001, da es über 300 Millionen Mark Umsatz brachte ­ allein durch die Champions League nahm der FCB etwa 90 Millionen ein. Gewiss, sie haben 17 Spiele absolviert und bloß 2 verloren. Das müsste indes Vizepräsident Karl-Heinz Rummenigge nicht zum Anlass nehmen, der erbärmlichen Restwelt kund zu tun, der FC Bayern werde seine Kultur pflegen, also "deutsch bleiben", also ehrlich und kernig "neue Geschäftsfelder erschließen", "Gewinne erwirtschaften" und den
"Cashflow" auf Trab halten.

Dieses Herrische, das unverhohlenen Stolz auf Stärke und Durchschlagskraft mit dem Gerede von "Identität" paart, kulminiert im Corporate-Identity-Gephrasel des kalten Machtmenschen, der jederzeit jeden Kontrahenten kompromisslos aus dem Feld räumt.

Die smarte Brutalität der Topmacher exerzieren leider auch die meisten ihrer Angestellten. Die freundlichen Sagnol, Kuffour und
Lizarazu und den klugen, zerbrechlichen Scholl mal ausgenommen, agieren da Typen auf dem Platz, die den autoritären "Bayern-Charakter" mit geschwellter Brust verkörpern. Ein Münchner zaudert nicht, zagt nicht, zögert nicht, er hat "unseren Willen" (Rummenigge). Er walzt nieder oder schlägt zu, notfalls in den tödlichen Momenten der letzten Minuten.

Stichworte für eine der obszönsten Zeitungsserien und Figuren der jüngsten fußballdeutschen Vergangenheit. Eine Woche lang offenbarte sich täglich die Zentralgestalt des elend nutzorientierten Gebolzes: Unter dem spätcartesianischen Titel "Ich, Effe" teilte Stefan Effenberg den Lesern der "Bild" offenherzig rousseauistisch mit, was ein Leitwolf aus Schrot und Korn ist. "Ich kenne keine Angst", gockelte er und pochte, Beckenbauers Attacken nach der Lyon-Blamage Revue passieren lassend, auf seine ganz persönliche Würde. Welche Würde? Grübelte man, welche Würde besitzt einer, der dem Fußball die Würde derart konsequent ausgetrieben hat?

Nun, immerhin besitzt er Selbstbewusstsein. Er kennt sämtliche Kniffe des "Psychokriegs" und zwei stahlharte Maximen: Draufgehen,  attackieren, haut sie weg!" und "Wir werden rennen, kämpfen und beißen!" Und klar ist eh: "Wenn du bei Bayern spielst, ist es normal, dass du in fünf Jahren drei- oder viermal Meister wirst."

Nein, das muss man sich, das müssen sich Schalker und Dortmunder, Leverkusen und Valencia wirklich gesagt sein lassen. ffenberg, das Prinzip der grausamen Normalität namens FC Bayern, kann Pässe schlagen, ein Spiel lesen und lenken; Sympathien auf sich ziehen kann er nicht.

Mag sich einer vorstellen, wie die Republik gefeiert hätte bei einem Schalker Champions-League-Sieg? Ein Erfolg der Bayern, "dieser schrecklichen Mannschaft" (Johan Cruyff), wird außerhalb des Freistaats eher geschäftsmäßig quittiert. Auch wenn die
internationalen Darbietungen im Vergleich zum Bundesliga-Auftritt weniger Hasspotenzial (wer mag sich schon für den FC Valencia erwärmen) bergen: Die Sorge ist groß, dass mit der Gründung der Aktiengesellschaft Bayern München die ökonomische Potenz ins definitiv unbezwingbar Meisterliche und unabwendbar Nuklearbedrohliche wächst.

"Was Schöneres gibt's gar nicht", trompetete der masochistisch veranlagte Malocher Kahn, "als wenn alle gegen uns sind." Dagegen ist dann halt kein Kraut gewachsen. Der Fußballgott jedenfalls strich, bevor er in Hamburg ins Koma fiel, die Segel.

Martin Seel wusste: Es sind "die missgünstigen Affekte, von deren Stärke diese Mannschaft lebt" und an denen sie sich, bespuckt und verfemt, in Ewigkeit stärkend labt. Mailand war nicht das Ende.
 

Roth, 33, schreibt unter anderem für "Titanic", "taz" und den
WDR-Hörfunk. Im Juni erscheint sein sechstes Buch zum Thema Fußball:
"Die Tränen der Trainer".

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